Zwischen Imagination und Realität- die Bedeutung des kindlichen Spiels
Für mich gibt es kaum etwas Spannenderes und Schöneres, als meinen Kindern beim Spielen zuzuschauen. Zu sehen, wie sie in ihre eigene Welt eintauchen, wie sie sich Dinge zu eigen machen, die Welt dadurch begreifen wollen und nachahmen.
Spielen ist die einzige Schnittstelle zwischen Imagination und Realität. Im Spiel ist alles möglich und reale Elemente können im Spiel eine völlig neue Bedeutung und Aufgabe erhalten.
Im Spiel kann Einfluss auf das Geschehen genommen werden und es entstehen Welten, fernab von erwachsenen Vorstellungen.
Dieses „andere Denken“, diese Kreativität und Fantasie des Kindes sind enorm wichtige Fähigkeiten, die ihnen auch im Berufsleben später zugutekommen.
Ein Kind das spielt, ist zufrieden mit sich und mit der Welt- es ist überzeugt, die richtige Person am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein- was für ein wunderbares Fundament für das ganze Leben!
Um mehr über die Bedeutung des kindlichen Spiels, die Rolle von uns Eltern dabei und die vorbereiteten Spielumgebungen zu erfahren, habe ich Nando Stöcklin befragt.
Nando Stöcklin studierte Ethnologie und doktorierte in Pädagogik. Beruflich beschäftigte er sich als Forschungsmitarbeiter mit den Auswirkungen der digitalen Transformation auf das Bildungswesen und als Folge mit Spielen.
Seither versucht er die Vorzüge vom Spiel konsequent für ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu nutzen und als Initiator von Spiel dein Leben die unnötigen Kluften zwischen Spielen, Arbeiten und Lernen zu überwinden. Seine Kinder sind ihm grosse Vorbilder und weisen ihm den Weg.
Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen des Interviews!
Hanna Landolt im Gespräch mit Nando Stöcklin
Für mich ist ein Spiel eine selbst gewählte Herausforderung, die einfach aus Freude in Angriff genommen wird. Mit anderen Worten: Beim Spielen tun wir etwas, das dem Innersten entspringt, also die persönliche Veranlagung unter den Gegebenheiten des jeweiligen Entwicklungsstandes widerspiegelt.
Bei jeder Aktivität werden bestimmte Nervenzellen im Gehirn aktiviert und miteinander verknüpft. So auch beim Spielen. Da ein Spiel eine Aktivität ist, die der persönlichen Veranlagung des spielenden Kindes entspricht, werden beim Spielen genau jene Nervenzellen miteinander verknüpft, die optimal zum Kind passen. So entfaltet das Kind sein volles Potenzial.
Nein, Spielen und Lernen lassen sich insofern nicht unterscheiden, als Spielen immer einen Lernprozess auslöst. Spielen bedeutet ja, selbst gewählte Herausforderungen anzupacken.
Herausforderungen haben die Eigenschaft, dass sie weder unter- noch überfordern, sondern exakt auf das Vorwissen und -können abstützen. Sie sind etwas schwieriger, als jene Tätigkeiten, die das Kind – oder die erwachsene Person – bereits routiniert kann.
Das Kind ahnt, dass es die Aufgabe bewältigen kann, aber es gibt immer einen Unsicherheits-Faktor. Sobald die Unsicherheiten ausgeschaltet sind, wird das Spiel langweilig – also unterfordernd – und das Kind wendet sich einem anderen Spiel zu.
Die Differenz zwischen Herausforderung und Unterforderung und somit die Differenz bei der Unsicherheit ist das Lernergebnis. Somit lernt das Kind bei jedem Spiel, unabhängig davon, ob es die Herausforderung wie gewünscht schafft oder nicht.
Allerdings gibt es auch andere Formen des Lernens, etwa Vokabeln büffeln. Spielen ist aber die effektivste Art des Lernens, da Spielen auf das Vorwissen und -können wie auch auf die Interessen des Kindes abstützt und das Kind mit vollen Emotionen dabei ist. Emotionen sind zentral, um das Gelernte nachhaltig im Gehirn zu verankern.
„Wird ein Kind vom Spielen abgehalten, wird es somit vom effektiven, nachhaltigen Lernen abgehalten.“ Nando Stöckli
Es gibt viele verschiedene Ansätze, Spiele zu kategorisieren. Beispielsweise Roger Caillois unterscheidet Spiele anhand von Eigenschaften wie Wettbewerb, Zufall und Simulation; Jesper Juul fokussiert auf Fiktionsstufen und Charlotte Bühler trennt Funktionsspiele, Fiktionsspiele, Rezeptionsspiele und Konstruktionsspiele voneinander.
Für viele Spiele sind Mitspielende notwendig. Das Alter dieser Mitspielenden ist vielfach unwichtig. Damit das Kind aber überhaupt Inspiration für neue Spiele erhält, sind Mitspielende unterschiedlichen Alters und entsprechend mit unterschiedlichen Erfahrungen hilfreich.
Aus dieser Perspektive dürfen Eltern ruhig mitspielen, sofern das Kind die Mama oder den Papa dazu einlädt. Allerdings gilt es dabei achtsam zu sein, denn wir Eltern wuchsen in einer Gesellschaft auf, die durch das industrialisierte Mindset geprägt war. Richtig und falsch war genauso wichtig wie Anleitungen befolgen können und belehren.
Deshalb müssen wir oft unsere Impulse bewusst unterdrücken, das kindliche Spiel zu korrigieren oder vorzuzeigen, wie die Tätigkeit besser geht. Das freie Spiel sollte nicht eingeschränkt werden durch unsere Erwartungen daran.
„Das freie Spiel sollte nicht eingeschränkt werden durch unsere Erwartungen daran.“ Nando Stöckli
Es gibt aber auch Situationen, in denen es sich lohnt, wenn Erwachsene ein Spiel initiieren. Etwa wenn ein Kind etwas erlebt hat, das es belastet. Wenn es sich beispielsweise Blut hatte nehmen lassen müssen, können Eltern ihm gezielt eine Spiel-Spritze, ein Gefäss mit Wasser und ein Stück Watte geben, um gemeinsam im Spiel den beängstigenden Gefühlen Raum zu geben.
Die Entwicklungspsychologin Aletha Solter betont in ihrem Buch “Spielen schafft Nähe – Nähe löst Konflikte: Spielideen für eine gute Bindung” die Bedeutung von Bindungsspielen und unterteilt diese in verschiedene Kategorien wie beispielsweise Machtumkehrspiele, Trennungsspiele oder das erwähnte Symbolspiel mit Requisiten.
Das sind alles Spiele, welche die Bindung stärken und helfen, Konflikte straffrei zu lösen. Vielfach werden diese Spiele von den Kindern initiiert und wir Eltern müssen sie die Gelegenheit nur aufgreifen.
Verschiedene Wissenschafter haben sich damit beschäftigt und Spiele nach Entwicklungsstadien kategorisiert. Beispielsweise Jean Piaget sieht eine Entwicklung des kindlichen Spiels von Übungsspielen zu Symbolspielen hin zu Regelspielen.
Mit wenigen Monaten übt das Kind, Einfluss auf Objekte auszuüben, indem es ein Objekt etwa anstupst. Später springt das Kind vielleicht wiederholt von einer Bachseite zur anderen. Auch da steht das Üben im Vordergrund.
Ab etwa zwei Jahren kann ein Objekt in einem Spiel etwas anderes repräsentieren. Eine Kartonkiste kann zu einem Auto werden, ein Nachttisch zum Backofen oder eine Puppe zu einem Baby.
Etwa ab sieben Jahre beginnt sich das Kind für formalisierte Regelspiele zu interessieren, zum Beispiel Räuber und Gendarm oder Kartenspiele.
Mittlerweile gibt es detailliertere Kategorisierungen mit mehr Abstufungen.
Für mich steht die Offenheit im Vordergrund. Offene Spielmaterialien, die also möglichst vielfältig verwendet werden können, halte ich für sinnvoller als Spielmaterial, das für eine einzige Funktion optimiert ist.
Offene Spielmaterialien finden sich in grosser Anzahl in der Natur. Blätter, Rindenstücke, Tannenzapfen oder Kastanien lassen sich unendlich vielfältig verwenden und sind stetig wandelbar in der Vorstellung der Kinder, genauso wie Holzklötze, Kartonrohre oder Schnüre.
Es gibt weitere Aspekte von Offenheit, die beim Spielen berücksichtigt werden sollten. Beispielsweise die Offenheit, was alles als Spielmaterial verwendet werden darf. Auch wenn wir Erwachsene etwa Küchenutensilien vor allem zu einem ganz konkreten Zweck verwenden, für Kinder können sie wertvolle Spielmaterialien darstellen.
Ebenfalls scheint es mir wichtig, offen zu sein für entstandene Spielergebnisse. Diese sollten nicht unseren dekorativen Erwartungen entsprechen müssen, gerade, wenn es ins kreative, gestalterische Tun geht, die Kinder sich also spielerisch Gestaltmaterialien wie beispielsweise Papier, Farbe und Klebstreifen annähern. Denn die Produktorientierung sitzt bei uns meist tief.
Die Kinder sollen sich einfach auch gestalterisch ausdrücken dürfen und dabei die Eigenschaften der Materialien kennenlernen. Sich etwas Bestimmtes zu erschaffen, das wird unweigerlich früher oder später aus eigenem Antrieb Thema werden.
Wir Eltern können uns fragen, ob die Wohnstube wirklich am Abend wieder aufgeräumt werden soll, obwohl das Kind mit dem Turm, das es mit Holzklötzen baut, noch nicht fertig ist. Und selbst wenn der Turm fertig ist, dürfen wir ihn ruhig etwas wertschätzen, indem wir ihn für eine Weile stehen lassen. Später kann es dann aber auch wieder hilfreich sein, aufzuräumen und so Gelegenheit für ein neues Spiel zu eröffnen.
„Somit ist nicht die Menge entscheidend, sondern vielmehr die vielseitige Verwendbarkeit des Materials. Die Vorstellungskraft des Kindes wird gerade dadurch hervorgelockt, dass die Wohnung nicht mit Spielzeug vollgestopft ist.“ Nando Stöckli
Tatsächlich ist der Wald in vielerlei Hinsicht ein idealer Spiel- und Lernort. Und ja, viele Spielsachen hemmen die Fantasie und Kreativität des Kindes. Ich bin vorsichtig bei allen Spielsachen, denen eine klare Leistungserwartung mitgegeben ist.
Je konkreter und je einschränkender die Erwartung ist, desto misstrauischer werde ich. So gilt es auch, sogenannt didaktisches Spielzeug kritisch zu hinterfragen. Gerade diese implizieren meist ein eindeutiges Lernziel.
Aber generell sind ein paar weniger sinnvolle Spielmaterialien inmitten einer offenen Spielumgebung kein Grund zur Sorge. Gerade Kinder, die sich gewohnt sind, kreativ mit Spielmaterial umzugehen, bauen diese entweder in ein fantasievolles Spiel ein oder sie lassen sie unbenutzt herumstehen, da sie den Reiz bald verloren haben.
In meinen Augen ist es wichtig, dass Kinder auch diese Aspekte der menschlichen Kultur spielend erproben dürfen, wenn sie das Bedürfnis dazu haben.
Ich bezweifle, dass Kinder gewalttätig werden, weil sie im Spiel Waffen verwenden. Studien zeigen vielmehr einen Zusammenhang auf zwischen Gewaltverbrechern und einem gestörten Bezug zum Spiel als Kind.
Spielen ist enorm wichtig für die gesunde Entwicklung von Kindern und sie sollten nicht daran gehindert werden.
„Ich bezweifle, dass Kinder gewalttätig werden, weil sie im Spiel Waffen verwenden. Studien zeigen vielmehr einen Zusammenhang auf zwischen Gewaltverbrechern und einem gestörten Bezug zum Spiel als Kind.“ Nando Stöckli
Eine Regel für mich lautet: Möglichst das Spiel des Kindes sich entfalten lassen, ohne unnötige Grenzen zu ziehen. Vielfach sind wir versucht, Grenzen zu setzen aufgrund unserer eigenen Begrenzungen. “Eine Pfanne ist nicht zum Spielen da”, ist nur einer von vielen unnötigen Glaubenssätzen, die oft unreflektiert von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Auch Grenzen aufgrund unserer eigenen Angst zu setzen, ist zwar verständlich, aber vielfach nicht förderlich und überträgt wiederum unsere eigene Begrenzung auf das Kind. Hier gilt es kritisch zu hinterfragen, ob ein Spiel wirklich gefährlich werden kann. Vielfach können Kinder einwandfrei abschätzen, ob sie bereit sind, beispielsweise auf den Baum zu klettern. Selbstverständlich müssen wir einschreiten, wenn ein Kind mit einer Gefahr in Berührung kommt, die es nicht kennt.
Eine andere Regel könnte lauten: Spielnahrung bieten, ohne zu mästen. Die Interessen des Kindes achtsam wahrnehmen und sich überlegen, wie wir als Eltern diese Interessen nähren können.
Und nicht zuletzt: Für physische und psychische Sicherheit sorgen. Das ist ein enorm grosses Thema, in dem Andere mit Sicherheit kompetenter sind. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass ein Kind, das sich nicht sicher fühlt, schlecht ins Spielen kommt.
Schönes und unschönes Spiel gibt es nur in der Vorstellung der Eltern. Da Vorstellungen der Eltern aber im freien Spiel der Kinder nichts zu suchen haben: Nein, es gibt kein schönes oder unschönes Spiel.
Aber: Es kann sein, dass ein Kind von anderen Kindern gezwungen oder gedrängt wird, mitzuspielen. Spielen ist immer freiwillig. Ist das nicht der Fall, ist die Aktivität in meinem Verständnis kein Spiel, auch wenn wir sie im Volksmund als solchem bezeichnen. Wenn also zwei Jungs sich freiwillig beim Balgen messen, ist das für mich ein Spiel. Wird ein Junge von einem anderen verprügelt, wird das für letzteren kein Spiel sein.
Langeweile ist die Phase zwischen zwei Spielen. Kein Mensch kann von Spiel zu Spiel hetzen. Ein Spiel ist dann zu Ende, wenn es langweilig wird. Anschliessend muss das Kind zuerst wieder Inspiration für ein neues Spiel finden. Das kann mal kürzer, mal länger dauern. Dazu ist die Langeweile prima.
Ist ein Kind dauernd gelangweilt, kann das aber auch darauf hindeuten, dass es momentan nicht in der Lage ist, ein neues Spiel entstehen zu lassen. Die Gründe können vielfältig sein: Vielleicht fehlt die notwendige Inspiration; das Kind kann aus dem Umfeld keine Herausforderung ableiten.
Vielleicht fehlt das Sicherheitsgefühl, beispielsweise weil die Eltern sich ständig streiten. Oder das Kind ist aufgrund von Leistungsanforderungen von aussen bereits so weit von sich entfernt, dass Inspiration nicht mehr auf fruchtbaren Boden fallen kann. Sprich: Es weiss gar nicht mehr, was es gerne tut.
„Langeweile ist die Phase zwischen zwei Spielen. Kein Mensch kann von Spiel zu Spiel hetzen. Ein Spiel ist dann zu Ende, wenn es langweilig wird.“ Nando Stöckli
“Zuerst machst du die Hausaufgaben, dann kannst du spielen”, drückt hervorragend aus, welcher Stellenwert Spielen in der industrialisierten Zeit hatte. In dieser Zeit war es wichtig, Kinder auf ein fremdbestimmtes Erwerbsleben vorzubereiten.
Die wenigsten Menschen stehen freiwillig ein Leben lang in einer Fabrik und tun Tag für Tag mehr oder weniger dieselbe Handbewegung. Die wenigsten Menschen sitzen freiwillig ein Leben lang in einem Büro und bearbeiten Tag für Tag Akten, die sich stark ähneln.
In der industrialisierten Gesellschaft war das Leben kein Ponyhof, entsprechend musste das Spiel ins hinterste Eck verbannt werden. Mit katastrophalen Auswirkungen für das gesunde Selbstvertrauen, für die psychische Entwicklung und letztlich für die Umwelt.
Dies ändert sich mit der digitalen Transformation. Langweilige Routinetätigkeiten werden mehr und mehr von Algorithmen übernommen. Der Mensch ist gefragt mit all seinen menschlichen Fähigkeiten, seiner Kreativität, seiner Empathiefähigkeit.
Unsere eigenen Kinder besuchen keine Schule. Wir lassen sie – so gut es die Vorgaben erlauben – spielen. Zu Hause, im Wald gemeinsam mit vielen anderen Kindern, die auch keine Schule besuchen oder wo auch immer. Ich bin überzeugt, dass diese Kinder viel besser auf ihre Zukunft vorbereitet sind, als wenn sie in der Schule Leistungsanforderungen erfüllen, die Erwachsene definiert haben. Und sie können sich psychisch viel gesünder entwickeln.
„In der industrialisierten Gesellschaft war das Leben kein Ponyhof, entsprechend musste das Spiel ins hinterste Eck verbannt werden. Mit katastrophalen Auswirkungen für das gesunde Selbstvertrauen, für die psychische Entwicklung und letztlich für die Umwelt.“ Nando Stöckli
Absolut! Spielen ist das Mittel der Natur, um sich gesund zu entwickeln, effektiv und nachhaltig zu lernen, die eigene Veranlagung zu entfalten und somit glücklich und erfüllt zu sein. Jede Einschränkung des freien Spiels wirkt sich nachteilig aus. In diesem Artikel habe ich zehn Gründe gelistet, weshalb Spielen so wichtig ist. Es gibt aber noch deutlich mehr.
Nando Stöckli
Initiator von Spiel dein Leben und des Magic Campus.
Von Nando Stöckli empfohlenes Buch:
- „Spielen schafft Nähe“ von Aletha J. Solter
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